Das Selbst im Spiel

Wir finden uns von Geburt an in verschiedenen Rollen. Wir leben in Rollenspielen, die wir willentlich eingehen.  Wir spielen in unzähligen Spielformen mit, haben kurze, lange, ärgerliche und erfrischende Beziehungen. Unser Selbst definiert sich aus unseren Beziehungen und den Rollen, die wir in ihnen aktualisieren. Die meisten Rollenspiele werden uns allerdings mehr aufgezwungen, als dass wir sie freiwillig wählen. Rollenerwartungen («Mädchen sind so!»), wie auch psychologische Beziehungen («Ich wurde von meiner Tante missbraucht»), sind mit einem Netz von Zugehörigkeiten verknüpft («als Wehrdienstleistende haben Sie zu gehorchen!»), deren Schnittpunkte wir nicht selbst definieren («Ich wurde unfreiwillig entlassen») oder von denen wir uns ungewollt fort («Alter!»)entwickeln. Lässt sich erst aus all den Rollen, die wir in den verschiedenen Beziehungen einnehmen, die grosse, übergeordnete Rolle aller Rollen zusammenrechnen? Definiert sich das Individuum, wie Karl Marx es sah, als das «Ensemble seiner Beziehungen»? Macht ihre Summe unser Selbst für die Öffentlichkeit aus? Warum bezeichneten die Griechen jene Personen, die privat bleiben wollten, ohne ein öffentliches Amt innezuhaben, als «Idiotes»?

(Bevor Sie nun hier und jetzt unsere kleine Applikation machen – beachten Sie diese Vorbemerkung: Eine Applikation ist eine Applikation ist eine Applikation. Sie bietet praktischen und erleichterten Zugang zu einem weit komplizierteren Hintergrund. Geniessen Sie mit unseren Apps Einfachheit. Vergessen Sie den Rest. Die Komplexe kommen früh genug wieder zu Ihnen zurück. Sind Sie bereit für den Download? Haben Sie die AGB gelesen? Dann legen Sie los!)
App 2:   Schreiben sie Berufe auf, die Ihnen einfallen, wenn Sie all Ihre Selfies betrachten. Z.B. «Apothekengehilfin», «Leseratte», «Weltverbessererin», «Wichtigtuerin bei der Bank», «Lebenskünstlerin», «Pendlerin» etc. Ziehen Sie dann einen der Berufe und bestellen Sie einen Kaffee, z. B. als «Wichtigtuerin» oder rufen Sie ihre Freundin an und lassen Sie einen Tag lang alle spüren, dass sie heute eine «Wichtigtuerin» sind.  Es wird Sie vielleicht einige Mühe kosten, den Kaffee mit einem Tausender zu bezahlen, oder den Cappuccino mit Extra Schaum und der Kakao-Inschrift Ihres Namens zu bestellen. Erst, wenn Sie am nächsten Morgen in einer Stretchlimousine vor dem Casino aufwachen, sollten Sie vielleicht über die Bücher gehen: ob Ihnen die Rolle der «Wichtigtuerin» zusagt und wie lange Sie sich den Lebensstandard leisten wollen.

Wir betrachten uns gern als eingespannt in unterschiedliche Netzwerke (soziale, kulturelle, persönliche, mediale, intellektuelle, nachbarschaftliche, berufliche etc.) oder, wie es die Akteur-Netzwerk-Theorie von Michel Callon, John Law und Bruno Latour seit den Achtziger Jahren beschreibt, als «Akteur in einem Netzwerk». Ist unser «Selbst» tatsächlich die Schnittstelle im komplexen Netz unserer Beziehungen, wie lassen sie sich die Einflussnahmen auf die Knoten darstellen? Wie vereinen wir in unserer Netzwerk-Performance all die unterschiedlichen Rollen, die wir im jeweiligen kulturellen Kontext einzunehmen gezwungen sind? Erfinden wir uns, wie wir sind, oder stellen wir doch nur dar, wie die anderen uns in Realität sehen sollen? Oder prägen uns jene An- und Zugehörigkeiten, die wir einfach nur erfunden haben (wie Religionen, Horoskope, Nationalitäten, Essensgewohnheiten usw.), etwa noch nachhaltiger als unsere reale Welt? Stossen wir mit all diesen Versuchen, Identität zu entwickeln, tatsächlich auf uns, oder doch nur auf unsere nachhaltigste Erfindung? Unser Selbst? 

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